Archivbild: Hubert Aiwanger und Markus Söder
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"Formale Demokratie": Wie Aiwanger die CSU herausfordert

Keine vier Wochen nach seinem "Demokratie zurückholen"-Aufruf legt Freie-Wähler-Chef Aiwanger mit seiner Äußerung zur "formalen Demokratie" nach. Die CSU um Markus Söder stellt das im Wahlkampf vor eine strategische Herausforderung. Eine Analyse.

Über dieses Thema berichtet: BR24 im BR Fernsehen am .

Euphorie bei den Freien Wählern. "Das Bundesverfassungsgericht bestätigt Hubert Aiwanger: Die Ampel regiert undemokratisch", twitterte der stellvertretende FW-Generalsekretär Felix Locke in der Nacht. Der parlamentarische Geschäftsführer der FW-Landtagsfraktion, Fabian Mehring, machte eine "gigantische Pleite" für "all die Kesseltreiber dieser Tage" aus: "Heizhammer der Ampel wurde soeben höchstrichterlich für undemokratisch erklärt. Wer will sich als erster bei Aiwanger entschuldigen?"

Dabei hatten die Verfassungsrichter keineswegs über das Gesetz an sich oder gar über Aiwangers Erdinger Aufruf entschieden, die Demokratie zurückzuholen. Vielmehr erreichte der CDU-Bundestagsabgeordnete Thomas Heilmann mit seinem Eilantrag, dass die zweite und dritte Lesung im Bundestag verschoben werden, damit das Parlament mehr Beratungszeit erhält. Heilmann selbst sagte, er halte "nicht das Gesetz für furchtbar", es müsse aber die Möglichkeit geben, "wichtige Details" noch einmal zu beraten.

Aiwanger sieht sich dennoch vollumfänglich bestätigt. "Diejenigen, die mir in den letzten Wochen mangelndes Demokratieverständnis wegen meiner Kritik an der Ampel vorgeworfen haben, sind auf den Falschen losgegangen." Aiwangers Botschaft: die "Beleidigungen", die "Schelte von vielen Journalisten" und die "linke Anti-Aiwanger-Demo" - alles ungerechtfertigt. Deutliche Kritik an Aiwanger hatte es allerdings auch vom Koalitionspartner gegeben. Und wer in der CSU gehofft hatte, dass der Freie-Wähler-Chef Einsicht zeigt und einen Gang zurückschaltet, wird gerade eines Besseren belehrt.

Söder: "Thema erledigt"

Erst am Dienstagabend hatte CSU-Chef Markus Söder sich erneut klar von Aiwangers "Demokratie zurückholen"-Forderung distanziert: "Ein sehr kritischer Satz, der entspricht auch nicht meiner Haltung", betonte der bayerische Ministerpräsident in der ARD-Sendung "Maischberger".

Es habe einen intensiven Austausch darüber gegeben und die Freien Wähler hätten versichert, "dass dieser Satz in der Form nicht wiederholt" werde. "Weil er ja suggeriert, dass wir quasi nicht mehr in einer Demokratie leben." Er gehe davon aus, betonte Söder, dass das Thema "erledigt ist". Auch andere CSUler hatten zuvor signalisiert, dass mit den Freien Wählern alles geklärt sei und man Erding abhaken könne.

Deutschland nur "formal" eine Demokratie?

Doch diese Rechnung machten die Christsozialen offenbar ohne Aiwanger. Noch während Söder im Ersten zu sehen war, hatte nahezu zeitgleich der Freie-Wähler-Chef einen Auftritt in der ZDF-Sendung "Lanz". Dort verteidigte er seine Erdinger Rede und legte nach. Auf Nachfrage von Moderator Markus Lanz sagte Aiwanger, es gebe in Deutschland noch "formal" eine Demokratie, aber die Vorgehensweise der Ampel sei "undemokratisch, wenn sie gegen die Mehrheit der Bevölkerung Politik macht".

Die Politikwissenschaftlerin Ursula Münch widersprach dem Minister in der Sendung: Eine Regierung müsse nicht jederzeit im Einklang mit der Bevölkerung sein. "Eine Politik, die ständig nur das machen würde, was sie im Grunde demoskopisch abfragt - das ist nicht mein Verständnis." Schärfer reagierte der bayerische FDP-Chef Martin Hagen auf Twitter: "Deutschland ist eine Demokratie - nicht nur formal, sondern dem Wesen nach." Eine solche Delegitimierung des politischen Systems sei "brandgefährlich".

"Formale Demokratie" ist ein Begriff, der von Politologen bei Staaten verwendet wird, die nur vermeintlich über demokratische Institutionen verfügen - in Wirklichkeit aber autoritär geprägt sind.

"Wie ein sehr engagierter AfD-Minister"

Aiwangers Äußerungen bringen jedenfalls eine neue Dynamik in den Landtagswahlkampf, deren Auswirkungen schwer kalkulierbar sind. Als Antwort auf die Erdinger Demo organisierten SPD und Grüne mit Verbänden und Gewerkschaften am vergangenen Wochenende in München die Kundgebung: "Ausgetrumpt – Zusammenhalt und Zukunft statt Rückschritt und Rechtsruck". Auf dem Podium fiel neben Aiwangers mehrfach auch Söders Name. Zwar hatte dieser Protest mit 8.000 bis 10.000 Teilnehmern nicht die Dimension der großen "Ausgehetzt"-Demos von 2018, dürfte insbesondere die CSU-Strategen aber trotzdem nicht kaltlassen.

Auf der rechten Seite des politischen Spektrums reklamiert die AfD Aiwangers Wortwahl als Bestätigung für ihre eigene Politik. Wie "ein sehr engagierter AfD-Minister" habe der Freie-Wähler-Chef in Erding geklungen, freute sich der AfD-Abgeordnete Uli Henkel kürzlich im Landtag. Aiwanger habe damit aber eher bei der AfD eingezahlt - "dem Original". Am liebsten hätte Henkel dem Minister gleich einen AfD-Aufnahmeantrag in die Hand gedrückt, aber Aiwanger hatte das Plenum schon verlassen.

Söder kann und will Aiwanger nicht folgen

Vor eine strategische Herausforderung stellt Aiwangers Vorgehen vor allem die CSU. Nach dessen Auftritt bei Lanz ist die Geschichte vom einmaligen Ausrutscher passé. Denn der Freie-Wähler-Chef lässt keinen Zweifel daran, dass er für sich die Rolle des bürgernahen Klartext-Redners beansprucht - und versuchen will, auf diese Weise potenzielle Protestwähler davon abzuhalten, ihr Kreuz bei der AfD zu machen.

Die Enttäuschten würde freilich auch die CSU gern für sich gewinnen. Im Kampf gegen die Ampel und angebliche grüne "Verbotspolitik" hatten sich CSU und Freie Wähler über Monate kaum unterschieden. Jetzt ist Aiwanger aber zwei Schritte weitergegangen - und Söder kann und will ihm dorthin nicht folgen. Anders als der Freie-Wähler-Chef distanzierte sich Söder in den vergangenen Wochen mehrfach klar von der AfD - und fand nach anfänglichem Zögern auch deutliche Worte für Aiwangers Formulierungen.

"Selbstradikalisierung seines Koalitionspartners"

Auf der anderen Seite hat sich der Ministerpräsident schon vor Monaten auf eine Neuauflage der Koalition mit den Freien Wählern nach der Landtagswahl festgelegt - obwohl die CSU aller Voraussicht nach aus mehreren Optionen auswählen könnte. "Damit fehlt ihm nun jedes Mittel, wie er seinen Vize disziplinieren könnte", kommentierten die "Nürnberger Nachrichten" heute. Und der "Münchner Merkur", der Aiwangers "Gerede von der 'formalen Demokratie' als bewusste Steigerung seiner Erdinger Rede wertete, mahnte: "Ministerpräsident Markus Söder muss sich die Frage stellen, wie lange er der Selbstradikalisierung seines Koalitionspartners noch ungerührt zusehen will."

Lange hatte sich Söders Landtagswahlkampf weitgehend darauf reduziert, die Berliner Ampel zu attackieren, während er die bayerischen Parteien praktisch ignorierte. Ausgerechnet sein Koalitionspartner zwingt ihm nun eine innerbayerische Auseinandersetzung auf. Man darf gespannt sein, welche Antwort Söder darauf findet.

Hubert Aiwanger
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Aiwanger bei Lanz: "Einer der wackersten Kämpfer für Demokratie"

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